Nordrhein-Westfalen vor der Wahl
- Gesichter eines Landes (12)
Das
Siegerland
Viel her macht das
Siegerland auf Anhieb nicht. Der Fernreisende erhascht von ihm nicht mehr als
Wald und Täler längs der Autobahn, die das Ruhrgebiet mit dem
Rhein-Main-Gebiet verbindet. Auch bei näherem Hinsehen ist das Siegerland
schwer zu fassen. Ein wenig Westerwald, ein wenig sauerländisches Bergland, ein
wenig Rothaargebirge, ein wenig Wittgensteiner Berge, Sieg, Lahn, Dill und Eder,
fertig ist das Siegerland. Kann es da noch verwundern, daß sich hier gleich
drei Länder, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen, ein oft bürokratisches
Stelldichein geben?
Ordnung inmitten aller Unordnung schafft indessen gleich einem verborgenen Magnetismus nur eines: Eisen. Schon vor mehr als 2500 Jahren bauten die Kelten hier Eisenerz ab. Das Land an Sieg, Lahn und Dill gilt daher als die älteste Bergbau- und Montanregion nicht nur Deutschlands, sondern Mitteleuropas. In dieser Tradition steht die Region bis heute.
Lagerbolzen für den neuen Airbus380? Komplette Stahlwerke für China? Verformte Bleche für die Skulpturen von Richard Serra? Oder Walzen aller Art, wie es auf dem Weltmarkt kaum bessere gibt, dazu sehende Chips, die etwa Schweißnähte schon während des Schweißvorgangs überprüfen? All das kommt aus dem Siegerland oder aus dem angrenzenden Südsauerland - und je größer es sein muß oder auch je kleiner, je spezieller die Anforderungen an Material und je präziser die Verarbeitung, desto eher nur aus dieser kleinen, aber feinen Industrieregion im toten Winkel Nordrhein-Westfalens. Das ist schon seit fast zwei Jahrhunderten so, weshalb man angesichts so mancher Veränderung das Wort Strukturwandel nicht so gerne hören mag. Dann schon lieber Strukturentwicklung, oder, noch besser, "nachhaltige Strukturentwicklung".
Hätten die Siegerländer mit ihren natürlichen Ressourcen Raubbau betrieben, so wäre die Region heute nicht eine der waldreichsten Deutschlands. Doch die Kohle, die man zur Verhüttung des Erzes benötigte, kam aus den "Haubergen" - eine einmalige Form der Niederwaldwirtschaft, die bis in das vergangene Jahrhundert sicherstellte, daß der "eisenschaffenden" Wirtschaft nicht durch Übernutzung der Wälder die Grundlage entzogen wurde. Heute sind die Hauberge bis auf einige historische Reminiszenzen längst verschwunden. Noch nicht allzulange aber ist es her, daß der Erzbergbau niederging. Und erst in den siebziger Jahren starben die Hütten, deren Schornsteine sich aus den Tälern in den oft grau-verregneten Himmel reckten. Geblieben sind die Unternehmen, die oft schon in sechster oder siebter Generation in Familienbesitz sind, und die Menschen, für die das Siegerland trotz aller Unwirtlichkeit liebenswerte Heimat ist.
Denn nicht nur die Werkstoffe sind hier seit Jahrhunderten dieselben. Mit ihnen sind es die Fertigkeiten und die Tugenden der Menschen, die sie bearbeiten. Rheinischer Frohsinn oder Münsterländer Bauernschläue sind dem Siegerländer fremd. Eisenverarbeitung erfordert Zähigkeit und Geduld, Zielstrebigkeit und höchste Genauigkeit. So fanden nüchtern-gestrenge Menschen in Nassau-Siegen und Sayn-Wittgenstein vor vier Jahrhunderten vielleicht ebensosehr zum Calvinismus wie diese Konfession mit ihrem hohen persönlichen Ethos zu ihnen. Die Spuren dieser geschichtsträchtigen Symbiose sind bis in die Gegenwart zu verfolgen: Sei es in Gestalt des "alten Fleckens", der nach einem Stadtbrand im 17. Jahrhundert akkurat wiederaufgebauten Innenstadt Freudenbergs (unser Bild), in Neunkirchen, wo auf dem Gelände der einst tiefsten Eisenerzgrube Europas ein florierendes Industrieunternehmen entstanden ist, oder im Neubau des Technologiezentrums Siegen, das symbolträchtig an jener Stelle errichtet wurde, wo bis vor wenigen Jahren die mehr als 500 Jahre alte Birlenbacher Hütte stand. Auch vor den Parteipräferenzen machte die Religion nicht halt. Das kurkölnisch-katholische Südsauerland ist bis heute eine Bastion der CDU, im reformierten Siegerland hatte meist die SPD das Sagen.
Wie im Ruhrgebiet, so sind auch im produzierenden Gewerbe des Siegerlands, dem zweiten altindustriellen Kerngebiet Nordrhein-Westfalens, in den vergangenen Jahrzehnten viele Arbeitsplätze fortgefallen. Aber anders als das großindustriell geprägte Ruhrgebiet setzte das Siegerland mit seinen vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht so sehr auf die Politik und auf Subventionen für alte Strukturen denn auf neue Produkte, neue Märkte und auf neue Wirtschaftszweige wie das Gesundheitswesen und den Tourismus. Den Staat nahm man für die "Sauerlandlinie" genannte Autobahn, den Flughafen Siegerland und neue Straßen in Haftung, dazu für eine neue Universität und bessere Schulen.
Vor diesem Erfahrungshintergrund lesen sich die "Forderungen der nordrhein-westfälischen Wirtschaft an die Landespolitik" aus Anlaß der Landtagswahl 2005 auch so, als wären sie im Siegerland entstanden: Stärkung der Eigenverantwortung, mehr Engagement für den Mittelstand, bessere Schulen und Bildungschancen, Vorrang für Forschung und Innovation. Macht das Siegerland auch auf Anhieb nicht viel her, der Blick hinter die Wälder und in die Täler lohnt sich. (D.D.)
Text: F.A.Z.,
14.05.2005, Nr. 111 / Seite 5