Claudia Gudelius
Feuerfrosch

Roman

Gebunden, 416 Seiten,

Erschienen bei: Rütten & Loening
3-352-00568-0
39,90 DM / 291 OES / 36,80 Sfr
 
  Nikita Siwash entdeckte Unci als erster. Sie stand im Eingang des Versammlungshauses von Pine Ridge und ließ Tatezi herein, den gelben Wind aus den Badlands. Er fuhr über die Rednerprotokolle, wirbelte Papier und Staub auf und pfiff durch die Fensterschlitze. Die Tür hinter der Alten schlug zu.

»Unci, Großmutter?« fragte Bluebird höflich. Bluebird war seit knapp zwei Jahren Stammespräsident der Lakota in Pine Ridge, South Dakota. Er konnte auf eine Reihe angesehener Vorfahren zurückblicken, die alle aus dem Bund der Pfeifenbewahrer kamen, der Wakiconza, deren vornehmste Aufgabe darin bestand, Streit zu schlichten.

Die alte Frau humpelte in den Kreis vor das Rednerpult und wartete, bis alle sie ansahen. Ihre magere Gestalt war in eine zerschlissene US-Fahne gehüllt, die sie verkehrt herum trug, genauso wie die Leute vom Indian Movement auf ihren Protestmärschen. Die grauen Zöpfe, dünn wie alte Bisonsehnen, baumelten über den Stars and Stripes. Bill Wind von der Zeitung Indians Today, der ganz vorne saß und den Kopf auf die Arme gelegt hatte, sah auf.

»Tut endlich was«, forderte die Alte. Sie langte unter ihr Fahnenkleid, holte den Weidenkorb hervor und kippte ihn aus.

Nikita sprang von seinem Sitz hoch, Bluebird kam einen Schritt näher, und Ellen Sands von Radio Kili, ›Die Stimme der Lakota‹, fing zu kreischen an. Schließlich kehrte wieder Stille ein, und sie starrten auf das Schreckliche.

Es waren mindestens zwanzig Frösche, Kröten und Lurche, die über den Boden krochen. Alle hatten verkümmerte Vorder- oder Hinterbeine. Den Leopardfröschen fehlten die Zehenglieder und den Rottüpfelmolchen die Schwänze. Ihre Haut war trocken und stumpf, übersät mit rotblauen Blasen und kraterförmigen Geschwüren. Die Mäuler schnappten nach Luft.

Ellen Sands wühlte in ihrer großen Schultertasche, brachte ein Tonbandgerät hervor und hielt es startbereit. Bluebird winkte ab: »Wir haben bereits letzten Sommer unseren Protest, den Protest der Oglala Lakota Nation von Pine Ridge, der Umweltbehörde in Pierre und dem United States Geological Service vorgetragen. Man versicherte uns, es handle sich um zufällige Mutationen. Wir haben nichts erreicht.«

Nikita Siwash nahm einen Leopardfrosch in die Hand und ging nach vorne. Er zwinkerte Ellen Sands zu, als sie das Tonbandgerät einschaltete.

»Es gibt eine gute Geschichte vom Frosch«, sagte er. »Vor langer Zeit floh ein Frosch vor einer Schlange. Er sprang mitten in einen Busch aus giftigem Efeu, um sich zu retten. Die Schlange folgte ihm nicht. Als sie fort war, sprang der Frosch hinaus und hüpfte in das Springkraut. Dort wälzte und drehte er sich. So lernten die Menschen vom Frosch, nahmen das Springkraut und hatten ein Heilmittel gegen giftigen Efeu.«

In der hinteren Reihe kicherte jemand.

»Wenn wir klug sind, hören wir auf den Frosch«, fuhr Nikita fort. »Seine Haut ist empfindlicher als unsere. Er kann uns warnen.«

»Ozonloch«, rief Wintersun von der Stammespolizei dazwischen.

»Wie wär's mit Umweltverschmutzung?« schlug Misty Moon, die Schuldirektorin vor. Bill Wind von der Zeitung schrieb eifrig mit.

»Da ist noch was«, sagte Nikita. Er war kleiner als die meisten Lakota und vor allem leiser. Ellen Sands ging weiter nach vorne und starrte ihn an. Er sieht noch immer unverschämt gut aus, dachte sie, wie ein glatter Stamm, aus dem die Indianer von der Westküste die Totempfähle schnitzen. Wie ein Baum, der im Sturm nicht gleich umfällt, einer zum anlehnen.

»Vor langer Zeit, als die Welt voller Wasser war«, erzählte Nikita, »half die alte Dame Kröte. Vor ihr hatten schon viele Tiere versucht, den Menschen Erde zu bringen, aber sie ertranken. Als die Dame Kröte im Wasser verschwand, dachte man, auch sie käme nicht wieder. Schließlich tauchte sie auf, mit einem Maul voller Erde. Sie spie es der Schildkröte auf den Rücken, und das Land begann zu wachsen.«

»Sehr schön.« Bill Wind lächelte und legte seinen Stift weg. »Wann sprechen wir über die Budgetkürzung?«

»Moment mal«, Nikita wandte sich an Bluebird. »Wir müssen was tun. Die Frösche sind krank, das kann auch die Umweltbehörde nicht übersehen.«

»Vergiß es, wir haben andere Probleme.«

»Die Frösche stammen aus unseren Flüssen. Wenn das Wasser vergiftet ist, haben wir Probleme und eine neue Legende, die klingt dann so: Vor langer Zeit, als es noch saubere Flüsse, Frösche und Indianer gab ...«

Bill Wind von der Zeitung rief: »Ich kann hier nicht ewig hocken! Macht weiter. Wenn wir die Budgetkürzung nicht verhindern, verhungert sowieso die Hälfte von uns. Was wir dann für'n Wasser trinken, ist egal.«

Nikita setzte den Leopardfrosch mitten auf Bill Winds Notizblock. »So was wie dich nennt man: ›Hängt ums Fort und hält die Hand auf‹.«

Unci humpelte auf Bluebird zu und zeigte auf Nikita: »Hat der was zu sagen?«

»Er hat.«

»Dann hört auf ihn!«

»Nächsten Dienstag ist eine Farmerversammlung oben auf Anne Little Dogwoods Land«, schlug Nikita vor, »wir gehen hin und kippen ihnen die Frösche auf den Tisch. Sie werden reagieren müssen.«

»Und wer zahlt die Pacht an Anne Little Dogwood? Sie liegt mit Zucker im Krankenhaus und macht's nicht mehr lange. Aber jeder Tag kostet ein Vermögen. Wenn wir den Pächter Hull verärgern, gibt's keine Zahlung mehr.« Bluebird stopfte einige Frösche in den Korb und drückte ihn der Alten in die Hand. »Laß gut sein, Unci.«

»Soll das heißen, du machst nichts?« Der alte Longwater von den Traditionalisten stand auf. Er zielte mit seinem knochigen Finger mitten in Bluebirds Gesicht. »Hast du nie aus einer Pfeife geraucht mit Altmutter Frosch als Pfeifenkopf? Wenn wir unsere Werte verleugnen, bringen wir uns schneller um, als die 7. US-Kavallerie schießen konnte.«

Bill Wind legte den Kopf auf die Arme und schloß die Augen. »Weckt mich, wenn's vorbei ist«, gähnte er.

»Also stimmen wir ab.« Bluebird nahm den Froschkorb, setzte ihn in die Mitte des Kreises. »Wer dafür ist, stellt sich neben den Korb.«

Nikita ging hinüber, Unci humpelte dazu und Longwater folgte ihr. Bluebird machte einen großen Schritt zurück zu seinem Pult. Die anderen blieben sitzen.

»Was für eine Schande«, sagte Unci. Dann folgte ein Wortschwall auf Lakota, den nur die Alten verstehen konnten, doch die hörten nicht mehr gut. Longwater reckte das Kinn vor.

Nikita hob den Korb auf. »Ich kann mich nicht erinnern, daß Sitting Bull eine Alte brauchte, die ihn in den Hintern trat, um Custer töten zu gehen. Aber die Bulls sind ausgestorben.«

Bill Wind fuhr aus seinem Schlummer auf. »Das ist allein dein Krieg, Kleiner.«